von William und Lisa ToelEine Rheinwiesenlager-GeschichteKURT ’45 Die Druckversionen können hier bestellt werden.
– 1 –EINFÜHRUNGWas Ihr gleich hören oder lesen werden, ist nicht nur eine Kriegsgeschichte. Es geht auch nicht nur um ein Kriegsgefangenenlager in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Sinn die-ser Geschichte besteht nicht darin, in der Vergan-genheit zu graben, „die Wahrheit aufzudecken“, Schuldzuweisungen zu machen, sich zu rächen oder gar „alles richtig zu stellen“. Mitnichten, diese Geschichte soll Euch in Liebe befreien.Es geht um das Ende einer 75-jährigen Ära in Deutschland und den Anfang einer neuen Zeit. Die-se Geschichte soll ein Licht auf ein riesengroßes und verschwommenes geschichtliches Ereignis werfen und dann für alle Zeiten einen Schluss-strich darunter ziehen. Es geht darum, sich einen Tag der Trauer für die Eigenen zu nehmen, ein Ka-pitel abzuschließen und dann ohne die Fesseln der
– 2 –Vergangenheit in eine strahlende und schöne Zu-kunft zu gehen, die die größte und wundervollste Zeit in der gesamten deutschen Geschichte sein wird – eine wahre Renaissance.In einer Demokratie mit einer wirklich freien Presse und einem ehrlichen Bildungssystem sollte es überflüssig sein, jetzt diese Geschichte zu the-matisierten, doch die große Mehrheit der Deut-schen weiß nichts über die Rheinwiesenlager und die dortigen Ereignisse. Niemand durfte damals über sie sprechen. In der Zeit von 1945 bis 1949 waren sie ein Tabuthema. Auch heute darf niemand Fragen zu diesem zentralen Teil der Geschichte ei-ner Nation stellen, der damals fast jede Familie be-traf und, ob es ihnen bewusst ist oder nicht, heute noch fast jeden Deutschen. Dieses Thema wurde ausgeklammert und exis-tierte nur in einer dunklen, geheimen Ecke ohne gesellschaftlichen Diskurs; in einem alten Fami-lienerinnerungsbuch, das ganz hinten in einer
– 3 –Schublade verstaut und nur hervorgeholt wurde, um es mit vertrauten Freunden zu teilen. Ohne Übertreibung oder Theatralik ist Kurts Geschichte das, was über fünf Millionen deutsche Männer (und oft auch Frauen) in der einen oder anderen Uniform damals erleben mussten – nur weil sie Deutsche waren.William Toel
– 4 –KAPITEL 1Platsch, Platsch. Als die Kieselsteine auf das Wasser trafen, bildeten sich Wellen auf der Oberfläche des Entwässerungsgrabens und ver-wischten das Spiegelbild der beiden Jungen, die darüber standen. Nur dass sie nicht einfach spiel-ten. Kurt, sechzehn Jahre jung, und sein bester Freund Helmut, ein Jahr älter und ein paar Zenti-meter größer, warfen nervös Steine ins Wasser, ihre Gewehre neben sich an einen hölzernen Tele-fonmast gelehnt. Sie gehörten zu einer Einheit von Jungen, die eine nicht verzeichnete Straßenkreu-zung gegen die vorrückende Armee der Alliierten verteidigen sollte.Am selben Tag wenige Wochen zuvor hatte man sie eingezogen und in ein Trainingslager geschickt. Zwei Tage war es nun her, dass man sie um 2 Uhr in der Früh aus ihren Feldbetten gerissen und an die-
– 5 –ser Stelle auf dem Land abgesetzt hatte. Dies war ihr erster Einsatz. Seit sie denken konnten, befand sich die Welt im Krieg und doch waren sie noch un-schuldig. Keiner der beiden hatte je ein Gefecht ge-sehen oder im Zorn einen Schuss abgefeuert. Trotz ihrer schon männlich anmutenden Gesichtszüge glichen sie eher Kindern als Erwachsenen.Pritzel, die kleine herumstreunende Terrier-hündin, die Kurt und Helmut adoptiert hatte, als sie vor zwei Tagen hier ankamen, kuschelte sich in Kurts Tunika. Weiß-braunes kurzes Fell mit gro-ßen braunen Augen – es war unmöglich, sie nicht zu lieben. Die kleine Hundedame hatte den Jungen in den letzten zwei Tagen viel Vergnügen bereitet und sie von Langeweile und ängstlichen Gedanken abgelenkt.Man munkelte, die Amis seien nur etwa siebzig Kilometer entfernt. Vielleicht würden die beiden sich also schon morgen beweisen müssen. Solange der Krieg nicht vorbei war, bevor sie hier ankamen!
– 6 –Alle sagten, es sei nur noch eine Frage von Tagen. Abwechselnd versuchten die Jungen etwas Schlaf zu finden. Sie hatten die Flugblätter der Amis gelesen, die noch während ihrer Schulzeit abgeworfen worden waren. Darauf wurde verkündet, dass eine gute Be-handlung zu erwarten sei, sollte man sich den Amerikanern friedlich stellen. Die Kämpfe und das Sterben würden dann aufhören und sie könnten ihr Leben wieder zurückbekommen: Freiheit! In der Schule machten sich die Jungs gerne über die Flugblätter lustig. Besser zu kämpfen als aufzuge-ben wie Feiglinge. Nun jedoch standen sie hier, an der Kreuzung zweier Straßen, und erwarteten in der Nacht das grollende Panzerrollen. Der vorheri-ge persönliche Siegesmut war verflogen.Keiner glaubte mehr an irgendetwas. Vielmehr war die Frage, was die endgültige Strafe nach einer Niederlage sein würde. Die Zukunft war wie eine Nebelwand. Niemand konnte sich vorstellen, dass
– 7 –noch Grauen vor ihnen lag. Sicherlich war nun alles überstanden.Die bedingungslose Kapitulation war das einzi-ge Angebot der Alliierten, doch in seiner Bedeu-tung unmöglich zu begreifen, denn eine vollständi-ge Unterwerfung und ein damit verbundenes Leben als Sklave wäre überhaupt kein Leben mehr. Und so ahnten die Jungs nicht im Geringsten, was in den nächsten Tagen auf sie zukommen würde. Heute Nacht hatten sie noch Hoffnung. Vielleicht, nur vielleicht, würden sie morgen den Mut fassen, ihren Worten gerecht zu werden.Der Morgen kam, jedoch keine Schlacht. Statt-dessen tauchte ein Bote auf, ein kleiner Junge, der Nachrichten zwischen den Einheiten und dem Kommandoposten überbrachte. Er eilte so hastig auf sie zu, dass er bei seiner Ankunft auf dem Kies ausrutschte: „Kapitulation!“ rief er.Sie hatten den Krieg überlebt. Sie würden nach Hause gehen, zurück zur Schule, zu ihren Familien
– 8 –und zum Erwachsenwerden. Auch sie würden nun ein Leben haben: ein eigenes Heim, einen Ehepart-ner und eine Familie. Das ganze Leben lag noch vor ihnen. Sie waren gesegnet, die Glücklichen. Kurt überkam eine unglaublich verwirrende Mischung aus Emotionen. Als hätte man ihm die Luft zum Atmen genommen. Es war also vorbei; seine Chance auf Ruhm, alles, womit die Jungs seit Jahren prahlten, nichts davon würde pas - sieren. Auf der anderen Seite stellte sich bei ihm große Erleichterung ein. Dieser nagende Zweifel, ob er tatsächlich einen Mann töten konnte, von Angesicht zu Angesicht, plagte Kurt jetzt nicht mehr. Also würde er nun, durch puren Zufall, in die Hände der Amerikaner fallen und nicht in die der Russen. Jeder wusste, was die Russen mit gefange-nen Deutschen machten – es war überall in den Wochenschauen zu sehen gewesen. Ja, er war einer der Glücklichen.
– 9 –Die Jungs sammelten ihre Ausrüstung und ihre Waffen ein, dann stapften sie zum Kommandopos-ten. Auf dem Weg dorthin brach die Schockstarre langsam auf und sie fingen an zu phantasieren, was sie jetzt tun würden: Einer wollte für die Amis Lastwagen fahren, ein anderer wollte noch höher hinaus und in Amerika eine Stelle als Lastwagen-fahrer erhalten. Man hörte schallendes Gelächter. Doch Kurt wollte nur noch nach Hause fahren, um seiner Mutter im Laden zu helfen. Sein Vater war seit mehr als zwei Jahren in Russland vermisst. Insgeheim jedoch freute er sich auf das Wiederse-hen mit Ingeborg, was er für sich behielt. Nur Hel-mut wusste von dem kleinen Medaillon mit ihrem Foto, das er immer bei sich trug. Kurt hatte es von Ingeborg zum Abschied bekommen an dem Tag, als er zum ersten Mal die Uniform trug. Sie war so stolz auf ihn gewesen. Er berührte das Medaillon in seiner Tasche. Die anderen Jungen würden sich über ihn lustig machen, wenn sie davon wüssten.
– 10 –Am Gefechtsstand hatten andere Einheiten, al-lesamt junge Burschen, die im Trainingslager wa-ren, begonnen, sich einzuschleusen und auf dem Feld in der Nähe des Kommandozeltes herumzu-lungern. Ein oder zwei Stunden später ertönte das unverwechselbare Geräusch eines herannahenden amerikanischen Jeeps über den Hügel hinweg. Die Jungs sprangen auf und erhaschten einen Blick auf die weiße Flagge, die über dem Fahrzeug wehte, als der Jeep in Sichtweite kurz vor dem Komman-dozelt parkte.Ein paar Minuten später raste der Jeep wieder davon. Der Kommandant der Jungs kam mit asch-fahlem Gesicht aus dem Zelt und wirkte erschöpft. Er gab den Befehl, die Waffen aufzustapeln und sich auf den Weg zu machen.Bald schlossen sich weitere Einheiten an, dann immer mehr – es war, als würden hunderte von Bä-chen und Flüssen in einen ewig anwachsenden, reißenden Strom aus Menschen münden. Bis zum
– 11 –Ende des Tages formierte sich eine schier endlose Kolonne von Männern, immer acht in einer Reihe, welche Staub aufwirbelte, soweit man blicken konnte. Immer wenn eine Einheit zu ihnen stieß, fingen die Männer an zu singen. Sogar einige der Verwun-deten stimmten mit ein, während sie sich auf die Schultern ihrer Kameraden stützten. Dies waren keine geschlagenen Männer.Auf den Feldern war noch kein Getreide ge-pflanzt worden. Wer hätte es auch tun sollen? Das Grün am Rand der Straße war hochgewachsen. Ab und zu landete ein Vogel auf einem hohen Schilf-rohr und bog es um. Einer davon, mit einem schlaff herabhängenden, gebrochenen Flügel, fiel Kurt ins Auge und zog ihn in den Bann, bevor er ihn in die Masse der Männer hinter ihm aus den Augen verlor.Entschlossen umklammerte der Vogel sein Schilfrohr, warf den Kopf herum, als ein Insekt
– 12 – vorbeiflog und er vergeblich versuchte, es mit sei-nem Schnabel zu fangen. Fliegen wie die anderen Vögel konnte er nicht, doch gab er nicht auf. Etwas Unbändiges in ihm trieb ihn dazu, sich festzuhalten und zu flattern, vergeblich auf dem Schilfrohr hin und her wippend: Das Leben gibt man nun mal nicht so einfach auf.Während der ersten Stunden des Marsches, wa-ren die Jungs noch aufgeregt: Hochdekorierte Vete-ranen, die vergnügt um sie herum sangen, verlie-hen ihnen ein Gefühl des Stolzes und der Größe. Doch mit jeder Stunde und jedem Kilometer wurde die Stimmung düsterer. In zunehmender Zahl wälz-ten sich neue Panzer und Kriegsgerät der Alliierten an ihnen vorbei. Oft lehnten sich Soldaten heraus und verhöhnten ihnen zu. Dies war für die Männer und Jungen, die auf dem Mittelstreifen der Auto-bahn entlanggingen, der erste Hinweis auf die Viel-zahl von Anschuldigungen, die ihnen ohne Hoff-nung auf Widerlegung (bald) entgegengeschleudert
– 13 –werden würden. Für viele Jahrzehnte würde es keinen Fürsprecher geben, der sich für einen die-ser Deutschen einsetzen würde.
– 14 –KAPITEL 2Jede Nacht ein paar Stunden auf dem nackten Bo-den am Straßenrand schlafend, schlängelte sich die lange, immer größer werdende Menschenko-lonne zwei Tage lang weiter, bis sie den Rand einer weiten Wiesenfläche erreichte. Kurt hatte durch die vielen Menschen vor ihm keine Orientierung mehr. Es gab viele Meinungen darüber, was sie dort tun würden – Gerüchte. Er folgte einfach dem Trott. Schlangenartige Linien, die an keinem wirklichen Ziel enden mochten. Die meisten der Männer ver-sicherten sich gegenseitig, sie seien dort, um aus-gemustert zu werden und bald darauf heimkehren zu können.Während ihnen beim Herumstehen von der Sonne und dem Wassermangel schwindelig wur- de, schalteten sich Lautsprecher ein, die immer
– 15 –wieder das Gleiche sagten: „Ihr habt keinen Schutz durch die Genfer Konvention…“. Sie waren kei- ne Soldaten in Uniform, sondern entwaffnete Kri-minelle! Schockierte, ungläubige Blicke wurden von einem zum nächsten weitergegeben. Ein Gefühl des Schreckens stieg in Kurt auf; er wollte verzweifelt losrennen – so schnell und so weit weg wie möglich. Doch seine Beine fühlten sich an wie Blei und ließen ihn dort verharren, einen Schritt hinter seinem Vordermann marschierend. Kurt fing Helmuts Blick auf. Dem Blick, den Hel- mut ihm zuwarf, war zu entnehmen, dass er genau-so viel Angst hatte wie Kurt und von den gleichen Gefühlen gefangen war. Was passierte hier eigent-lich?Sie hatten Pritzel abwechselnd in ihren Klei-dern versteckt, während der langen, beschwerlich Schlepperei der vergangenen zwei Tage. Pritzel war das einzige Überbleibsel von Kindheit und Sanftmut, das sie in dieser schweren, stinkenden
– 16 –Masse von Körpern und Maschinen noch hatten. Es war erstaunlich, wie oft sie wie kleine Jungs ge-lacht hatten, als sie über die niedlichen Possen sprachen, die sie „unserem kleinen Mädchen“ zu-schrieben. Sie war mit jedem Tag wertvoller ge-worden. Wenn Kurt sie in seiner Uniform trug, streckte sie ihre Nase heraus, um die frische Luft zu schnuppern oder aufzublicken und seinen Blick zu erhaschen. Dann machte er sich einen Spaß da-raus, sie entrüstet zurechtzuweisen: „Pritzel!“. Da-bei konnte er spüren, wie ihr Schwanz wedelte, wenn sie sich wieder an sein Herz schmiegte. Sie schien alle Unschuld zu verkörpern, die es auf die-ser Welt noch gab. Jauchzend vor Glück über ein hartes Stück Brot aus ihren Rucksäcken, als wäre es ein Festtagsmenü, waren sie für sie alles, was sie hatte oder jemals haben würde.Nach stundenlangem Anhalten und Weiterge-hen, wie in einer Herde Rinder oder Schafe, fanden sich Kurt und Helmut an dem ihnen zugewiesenen
– 17 –„Pferch“ aus eilig konstruiertem Stacheldrahtzaun und Toren wieder. Die Amis umzingelten sie wie gefräßige Wölfe. Diese Soldaten waren alles andere als Zugehörige von Kampftruppen an vorderster Front. Sie waren der Bodensatz jeder Armee. Hier gab es keine muskulösen, tapferen Gesichter. Alle Versuche, etwas zu verbergen, schienen hoffnungs-los. „Wo ist Ihre Uhr?“, sagte die erste amerikani-sche Stimme, die Kurt deutlich vernahm. Ein Ami-Soldat mit einer Zigarette im Mund (einer echten!) und Uhren, die seine beiden Unterarme bedeckten, stieß ihn in die Brust. Die anderen Soldatenwölfe näherten sich mit geladenen Gewehren und ziel-ten. Die Jungen wurden aufgefordert, ihre Taschen nach außen zu drehen. Kurt versuchte, seine linke Tasche, in der sich Inges Medaillon befand, nicht ganz umzustülpen.Doch der Soldat riss es heraus, es fiel zu Boden und wurde weggeschnappt.
– 18 –Alle Wertsachen wurden den Jungen gestoh- len – Ringe, Brillen, Taschenuhren, Messer. Kurt hatte Glück, er bekam nur einen Tritt in die Hose. Viele andere bekamen einen Gewehrkolben auf den Kopf geschlagen. Ein Häftling rief in gebroche-nem Englisch: „He, was habe ich getan?“ Er bekam zwei Gewehrkolben in den Kopf; bewusstlos sackte er zu Boden. Als nächstes nahmen sie Helmut Pritzel weg und setzten sie auf den Boden. „Ach, was für ein süßer kleiner Hund“, sagte der Besitzer der knorri-gen Hand, die sie weghob. Kurt gebot ihr, zu blei-ben. Sie verstand und wedelte mit ihrem Schwänz-chen im Dreck und beobachtete ihn erwartungsvoll. Sie vertraute auf jeden Befehl, als wären die Jungs Götter und wüssten, was das Beste für sie war. Aber sie befand sich weder in der Gegenwart von Menschen noch von Göttern. Sie war nur ein kleines, hilfloses Lebewesen in der Gegenwart von Monstern. Helmut schob Kurts
– 19 –Gesicht weg und sagte ihm, er solle nicht hinsehen, als der große Ami ihren kleinen Schädel unter ei-nem ekelerregenden Schlag mit seinem Gewehr-kolben zertrümmerte und die Hammerschläge auf ihren leblosen Körper fortsetzte, bis nur noch klei-ne Stücke braunen und weißen Fells im Schlamm zu sehen waren. Kurt und Helmut hatten das kleine Hündchen geliebt. Die Amis waren voller Hass auf alles, was die Jungs liebten. Jetzt kannten sie ihr Schicksal. Irgendwann würden auch sie Teil dieses Schlamms sein.Tränen flossen Kurts Wangen hinunter, doch er konnte nicht schluchzen. Die Wut und der Schmerz und der Schock machten ihn sprachlos. Er biss sich auf die Lippe, als er beobachtete, wie ein Ami mit seinem polnischen Gehilfen ein Federmesser aus-klappte und grob alle Abzeichen und Identitäten von Kurts Uniform abschnitt, so auch bei jedem an-deren Mann um ihn herum. Nun waren sie alle gleich, ohne Rang und Unterscheidung.
– 20 –Diese drittklassigen Menschen, welche als Sol-daten gekleidet waren, die sie niemals sein wür-den, machten sich einen besonderen Spaß daraus, Oberoffiziere und hochrangige Helden zu demüti-gen. Sie wurden genauso wie in letzter Minute ein-gezogene Soldaten behandelt. Diejenigen, die mehrfache Verwundetenabzeichen oder Abzei-chen für extreme Tapferkeit besaßen, welche sie sich in langen Jahren der Entbehrung und des Mu-tes verdient hatten, standen schweigend da, wäh-rend sie misshandelt wurden. Die Amis hatten so-gar die Frechheit zu fragen: „Wofür ist das?“, als sie die Abzeichen abrissen: Souvenirs eines Krieges, den diese abscheulichen Kreaturen nie erlebt hat-ten.Jetzt, da sich die Feinde Auge in Auge gegen-überstanden, fiel auf, wie blass die Haut der Gefan-genen war und wie sauber rasiert und gut gepflegt die deutschen Offiziere im Vergleich zu den Wär-tern erschienen, welche schlechtsitzende Unifor-
– 21 –men trugen, schlecht rasiert waren und mit Ziga-retten im Mund ohne jeglichen Respekt mit den Offizieren sprachen. Einige der dabeistehenden Soldaten machten Scherze darüber, welches Grauen den Ehefrauen, und Müttern und Töchtern der Gefangenen bevor-stünde – sie waren besonders niederträchtig ge-genüber den Offizieren. Es war, als hätte sich die Welt auf den Kopf gestellt – jetzt konnte der ro-heste, kulturloseste Soldat über einen Mann herr-schen, der gestern noch den Respekt von Tausen-den seiner Männer genossen hatte, und das aus gutem und offensichtlichem Grund. Das „Lager“ breitete sich vor den Jungen aus. Es war eigentlich gar kein richtiges Lager, denn es gab nichts, was einem Zelt oder einer Unterkunft äh-nelte, nur Stacheldrahtzaun, der ein endloses Meer von nichts als grau-braun verdreckten Männern im Matsch umgab. Soweit das Auge reichte, keine Far-be in Sicht, keine Farbe von Uniformen und von
– 22 –Landschaft. Nicht mal ein Baum war zu sehen.Doch es waren hier nicht nur Soldaten gefan-gen, sondern auch Kranke und Verwundete, die hilflos auf dem schon sumpfigen Boden lagen. Wo war das Rote Kreuz? Wo waren die Ärzte? Niemand vom Militär kam zu Hilfe, keiner von den Amerika-nern, keiner aus der näheren Umgebung des La-gers. Was war der Grund?Offiziere und Unteroffiziere waren nicht mehr leicht zu auszumachen und wussten auch nicht mehr als der Rest. Ein wachsendes Gefühl der Ver-wirrung setzte ein, da Ordnung und Disziplin zu-sammenbrachen. Leutnants saßen nun neben dem untersten Gefreiten im gleichen Dreck und in der gleichen Not. Helmut und Kurt gesellten sich zu einer Gruppe Jugendlicher, die auf dem Boden saß und wartete. „Wie lange seid ihr schon hier?“ – „Drei Wochen!“, war die Antwort.Als die Dunkelheit hereinbrach und die Umrisse der auf dem Feld sitzenden Männer schwanden,
– 23 –wurde ihnen klar, dass sie hier so bald nicht weg-kommen würden. Mit der herannahenden Nacht vernahm man den deutlichen Geruch von Regen, welcher, nachdem die Wolken ins Tal gezogen waren, die Felder zunehmend in Schlamm verwan-delte.
– 24 –KAPITEL 3Der Morgen brach an, doch keine Erleichte- rung in Sicht. Hunger. Nässe. Kälte. Kurts Geist war benommen und verwirrt von den Kopf-schmerzen, die er seit gestern hatte, vom Schlaf-mangel. Es war so gut wie unmöglich während der Nacht zu schlafen. Er hatte die meiste Zeit damit zugebracht, einen Weg zu finden, sich auf den Boden zu legen, ohne dass ihm der Regen in die Ohren lief oder sein Kopf im Schlamm versank. Keine Armee hätte diesen Boden je zum Kampie-ren ausgewählt. Er und Helmut schliefen schließ-lich im Sitzen, Rücken an Rücken; sie hielten sich gegenseitig hoch und stützten ihre Köpfe auf die Knie. In der Dunkelheit der Nacht konnte man beun-ruhigende weinerliche Geräusche hören. Nicht von
– 25 –den Verwundeten – was zwar auch von ihnen zu hören war und womit gerechnet wurde – nein, es war das Weinen von erwachsenen Männern.Doch jetzt, wo es hell war, hörte man nur noch die Verwundeten schreien. Obwohl es die ganze Nacht geregnet hatte, war Kurt unglaublich durs-tig. Lange Schlangen hatten sich gebildet, um an die einzige Wasserquelle zu gelangen: ein behelfs-mäßiges Rohr, welches Wasser direkt aus dem Rhein pumpte. Stundenlanges Stehen und Vor-wärtsschlurfen in der Schlange (einer sagte, er habe gestern vierzehn Stunden gebraucht) ließ Kurt mehr als einmal in Ohnmacht fallen. Helmut stellte sich vor ihn und sie legten abwechselnd ih-ren Kopf auf den Rücken des anderen. Als sie sich dem Ende der Schlange näherten, begannen die Männer zu drängeln und zu schubsen, um an das Rohr zu gelangen. Ein älterer Mann vor ih- nen verlor immer wieder seinen Platz in der Reihe,
– 26 –da er jedes Mal, wenn er in die Nähe der Wasser-quelle kam, wieder nach hinten geschoben wurde. Dieses erste Zeichen der Unmenschlichkeit, das Kurt und Helmut bei den Männern beobachteten, war nicht beabsichtigt. Jeder Mann tat, was er konnte, um einen weiteren Tag zu überleben; wenn jemand schwächer war, konnte er sich nicht durch-setzen.Nur jeder dritte Mann besaß einen Metallbe-cher, eine Pfanne oder eine Dose. Die anderen wa-ren gezwungen, das stinkende Flusswasser mit den bloßen Händen zum Mund zu führen; aus dem-selben Fluss, den die Jungen einen Tag zuvor auf einer Pontonbrücke überquert hatten, voller ange-schwemmter Leichen, Tierkadavern, Benzin und Öl.Drei oder vier Männer auf einmal kauerten unter dem Wasserhahn, zehn Zentimeter über dem Boden und versuchten, so viel zu schlucken, wie sie konnten. Jene, die mehr Glück hatten, nah-
– 27 –men einen zusätzlichen Becher Wasser für später mit. Die weniger Glücklichen drehten sich nach dem Trinken oft um und übergaben sich, sobald das verdorbene Wasser auf die Magenschleimhaut traf.Gegen Mittag war die Sonne durch die Wolken gebrochen. Die Luft, zuvor noch kalt und feucht, heizte sich auf und wurde drückend schwül. Viele der Männer, die schon seit Tagen und Wochen hier waren, zeigten Anzeichen von Ruhr. Der Gestank auf dem Feld war ekelerregend. Als Latrinen gab es nur offene Gruben. Viele Männer schafften es nicht rechtzeitig dorthin und beschmutzten ihre Hosen mit Durchfall. Zu schwach zum Laufen, entleerten und urinierten die Männer dort, wo sie gerade la-gen. Das überzog den Schlamm mit grünem und gelbem Schleim. In einigen Teilen des Geheges gab es keinen Platz zum Laufen, um dem auszuwei-chen. Der ekelerregende Geruch klebte an jedem. Niemand hatte Kleidung zum Wechseln.
– 28 –Jeden Tag kamen mehr Männer im Lager an und wurden in die Ställe geschoben. Die einzigen, die das Lager verließen, waren die Toten, die von de-nen, die noch laufen konnten, auf Handkarren zum Tor gebracht wurden. Kurt hatte schon früher tote Körper gesehen, bei Beerdigungen – sauber und ordentlich, mit geschlossenen Augen, als ob sie schliefen – aber er hatte noch nie jemanden beim Akt des Ablebens zugesehen. Nun starben die Men-schen um ihn herum an Krankheit und Hunger auf bloßem Boden. Selbst für die Verzweifeltsten gab es keinen Unterschlupf.In den ersten acht Tagen kam keinerlei Nah- rung an. Die intensiven Schmerzen vom Hunger stachen wie Messer in ihre Eingeweide. Manch- mal überkam sie in der Hitze des Tages ein Schüt-telfrost, dann saßen sie zitternd da und kalter Schweiß klebte ihnen die Kleider an die Rücken. In den letzten zwei Tagen aßen die Männer das wenige Gras, das noch übrig war, und gruben
– 29 –Würmer und Käfer aus dem Boden, um sie zu essen. Helmut hatte sich bislang sehr bemüht, für sie beide die Moral hochzuhalten. Doch Kurt, der schon immer empfindsamer war, begann, den Le-benswillen zu verlieren. Stunden kamen einem vor wie Tage, unendlich. Es gab nichts zu tun, außer auf dem Boden zu sitzen und den Kopf auf die Knie zu legen. Schlafen wäre ein Segen, Sterben Glückselig-keit. Einige Männer verbrachten die Tage damit, Löcher in den Boden zu graben, um ein wenig Schutz und Wärme zu finden. Mit ihrer Blechdose häuften sie wie Maulwürfe den Dreck um sich herum auf, bis sie ein Loch hat-ten, das groß genug war, so dass sich zwei oder drei dort hineinlegen konnten. Viele von ihnen würden in den nächsten Tagen und Monaten ster-ben. In Wirklichkeit würden diese Löcher ihre Gräber sein, wenn die Bulldozer der Amis anrück-ten, um den Boden zu reinigen und „hygienisch zu
– 30 –säubern“; die Löcher der zusammengekauerten Männer versiegelnd, die vor Hunger und Krankheit zu benommen waren, um herauszukriechen. Wenn es irgendwo eine Hölle gab, war sie genau hier.
– 31 –KAPITEL 4Essen! Peter, der Älteste einer Gruppe von Ju-gendlichen, zu der Kurt und Helmut gestoßen waren, meldete sich wie jeden Morgen beim zu-ständigen Revierkommandanten. Es hatte sich he-rumgesprochen, dass, wenn Lebensmittel eintra-fen, jeder Trupp von sieben Insassen seinen designierten Anführer zum Kommandanten von jeweils zehn Einheiten schicken sollte, wenn Le-bensmittel eintrafen. Dieser sollte sich am Tor ein-finden, um die Lebensmittel in Empfang zu neh-men. So wollte man einen Ansturm verhindern, damit die streng rationierten Lebensmittel gleich-mäßig verteilt werden konnten. Heute hatte der Kommandant einen Leib rohen Brotes erhalten. Er schnitt es sorgfältig in Zehntelscheiben und gab Peter eine davon. Peter hatte Tränen in den Augen, als er es der siebenköpfigen Gruppe zeigte. Mehr
– 32 –würden sie heute nicht bekommen. Die Jungs ris-sen es vorsichtig in gleich große Stücke und hielten ihr Stück jeweils in der Hand, bis alle etwas be-kommen hatten. Als Kurt das briefmarkengroße Stück in den Mund nahm, fühlte sich die grobe Tex-tur des Brotes seltsam auf seiner Zunge an. Er be-hielt es so lange wie möglich im Mund, bis es zer-fiel und sich in Krümel auflöste. Am selben Nachmittag starb einer der Jungen im gleichen Alter wie Kurt an Ruhr, Dehydrierung, Hunger und Aussatz. Es spielte kaum eine Rolle, was ihn dahingerafft hatte. Er war einfach tot. Die Jungen hatten sich abgewechselt, im Schlamm ge-sessen und seinen Kopf auf ihrem Schoß oder an ihre Brust gehalten, während er von Kopf bis Fuß zitterte, sich schüttelnd vor Elend.Seine Augen versuchten zunächst, sich auf ihre vertrauten Gesichter zu konzentrieren. Sie konn-ten sich in der letzten Stunde vor seinem Tod über-haupt nicht mehr fokussieren, sie wurden glasig
– 33 –und starr. Noch vor ungefähr einem Monat war er ein hübscher deutscher Junge gewesen; sechzehn Jahre alt und voller Tatendrang, der Stolz jeder Mutter. Jetzt lag hier ein stinkender Klumpen von immer steifer werdenden Knochen.Bei Einbruch der Dunkelheit würde ein Karren das, was von der Leiche dieses Kindes übrig war, aufnehmen und es grob über die Maulwurfshügel und den Schlamm zum äußeren Zaun transportie-ren. Von dort aus würde er auf die Ladefläche eines Lastwagens geworfen werden, zusammen mit neunzig bis hundert anderen, die wie Schnittholz gestapelt waren. Jede Nacht verließen die Lastwa-gen wie in einer Prozession das weitläufige Weide-land und brachten ihre Ladung an einen Ort, der Gott weiß wo lag, um sie im Schutz der Dunkelheit in ein Loch zu werfen, über das Kalk gestreut wur-de. Es gab weder Identifizierung noch eine Regist-rierung der Toten. Die Amis hatten absichtlich nicht Buch darüber geführt, wer kam und ging.
– 34 –Dieses namenlosen Krauts waren nicht einmal Nummern in einem Verzeichnis. Sie haben prak-tisch nie existiert. Ihre Familien würden nie erfah-ren, dass sie durch Vernachlässigung absichtlich ermordet wurden. Doch die Jungs wussten es. Die Amis zeigten keinerlei Gefühlsregungen ge-genüber den Gefangenen, noch nicht einmal Hass. Sie betrachteten sie als nicht-menschlich; nicht einmal mit der Würde von Tieren. Eigentlich sahen sie sie nicht mal an. Ihre Haltung war: „Ich hoffe du stirbst, Kraut. Dann bekommst du, was du ver-dienst.“Eine Einheit bestehend aus Frauen, die ein Flug-abwehr-Geschütz besetzt hatten, wurde ins Lager gebracht und verursachte etwa eine Stunde lang zusätzliches Unbehagen unter den Männern. Wenn die Amis so etwas mit Frauen machten, vor was würden sie noch Halt machen? Zwar wurden sie von den Männern getrennt eingepfercht, jedoch in ihrem Blickfeld. Es hätte sowieso keine Rolle ge-
– 35 –spielt, es gab dort in diesem Sinne keine Männer mehr. Überhaupt sollte niemand diesen Ort über-haupt ein Lager nennen. Fast vier Monate, nach-dem der erste Draht an einen Pfahl genagelt wur-de, gab es immer noch keinen Unterschlupf. Die Amerikaner hielten sich meist fern von den Gefangenen. Sie kamen nie selbst auf das Feld. Viel-leicht aus Angst vor Läusen oder Krankheiten oder einfach nur aus der nicht ganz unbegründeten Furcht, lebendig aufgegessen zu werden. Ein paar Mal pro Stunde fuhr ein Jeep zwischen den inneren und äußeren Zäunen hindurch, wirbelt Staub auf und hinterließ einen verlockenden Duft von ech-tem Tabak. Echter Tabak, echter Kaffee oder Butter waren für die Gefangenen jahrelang ein unmögli-cher Luxus gewesen, und die meisten der Männer konnten sich nicht mal mehr an den Geschmack er-innern. Ja, auch Gerüche können qualvoll sein.Jeden Tag und jede Nacht war das Geräusch kur-zer Maschinengewehrsalven zu hören. Wieder mal
– 36 –hatte irgendein verzweifelter Mann versucht, un-ter dem Zaun durchzukommen und war erschos-sen worden. Niemand konnte entkommen. Das ge-samte Umland außerhalb des Zauns wurde streng bewacht.Es gab für die Jungen absolut nichts zu tun, als sich jeden Tag herumzuschleppen oder nur zu sitzen. Einige der Männer hatten noch die Energie, um zu reden, erzählten Geschichten von sich. Manche waren hartgesottene Veteranen; manche Straßenbahnfahrer aus Köln oder Wup-pertal; es gab sogar einen Mann, der bei einer Parade in Berlin dabei gewesen war und den Führer gesehen hatte. Zumindest hatte er sein Auto erblickt und konnte es bis in die Radkap- pen hinein anschaulich beschreiben. Doch die meisten der Gefangenen waren nur Kinder, man-che erst zwölf Jahre alt und sogar ein paar Neun- und Zehnjäh rige, die sich den Gürtel zweimal um die Taille gewickelt hatten, dünn wie Streich-
– 37 –hölzer, damit die Hose oben blieb. Für welches Verbrechen genau wurden sie bestraft? Nur das Verbrechen, als Deutsche geboren zu sein?Ein paar endlose Wochen nach ihrer Ankunft befanden sich Helmut und Kurt in der Nähe des Grenzzauns, als sie ein paar Frauen und Priester bemerkten, die den gegenüberliegenden Hang hinunterkamen, in Richtung des äußeren Zauns. Es waren die ersten Zivilisten, die sie sahen, seit sie das Weideland betreten hatten. Vorsich- tig näherte sich die kleine Gruppe dem Zaun und die Jungen hielten den Atem an, das Herz klopf- te ihnen in den Ohren. Essen! Sie trugen einige Körbe, die offensichtlich bis obenhin mit Le- bensmitteln gefüllt waren. Die Gruppe kam etwas näher; der Priester lief vor den Frauen und be-ruhigte sie. Die Männer hinter den Jungen rühr- ten sich. Sie hatten die Gruppe jetzt auch gesehen und immer mehr Männer standen auf, um zuzu-sehen.
– 38 –Pam, pam! Vom Wachturm kam der unüberhör-bare Klang von Gewehrschüssen und ließ die Ge-fangenen zusammenzucken. Die Schüsse trafen nicht ins Fleisch, sondern donnerten knapp über die Köpfe der kleinen Gruppe außerhalb des Zauns hinweg. Sich duckend und stolpernd bewegte sich die kleine Gruppe zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war und verschwand schneller hin-ter den Hügeln, als sie aufgetaucht war. Kurt schrie auf. „Inge!“ In seiner Verwirrung verwechselte er die jüngste Frau aus der Gruppe mit dem Mädchen, das er einst gekannt hatte. „Inge!“ Er rief ihr erneut durch den Zaun hinterher. Die junge Frau hörte ihn nicht. Sie hieß nicht Inge und sie war nicht wegen Kurt gekommen. Sie war gekommen, um Männer zu füttern, die sie gar nicht kannte. Männer, die sie nie wieder sehen würde.
– 39 –KAPITEL 5Täglich änderten sich die Bedingungen im La-ger. Auf nichts konnte man sich verlassen. An einem Tag kam etwas Essen an, darauf zwei Tage nichts. Oder man erzählte, dass alle, die nicht an Gefechten beteiligt waren, schon am folgenden Tag gehen konnten. Am Tag darauf passierte nichts. Als das erste Mal weiße „Freiheitsscheine“ ver-teilt wurden, liefen den Männern Tränen des Schocks und der Erleichterung über die Gesichter. Doch es stellte sich heraus: Die sogenannten Frei-heitsscheine bedeuteten nichts. Diejenigen, die ei-nen besaßen, gingen nirgendwo hin – jedenfalls nicht nach Hause. Niemand wagte mehr zu hoffen.Keiner hatte mehr die Kraft zum Reden. Die Ge-fangenen verständigten sich, wenn sie mussten, durch Grunzen oder schwache Andeutungen des Kopfes oder der Augen. Ein unbeschreiblicher
– 40 –Gestank aus Exkrementen und verwesendem Fleisch hatte dazu geführt, dass die Augen der Männer anfingen zu schielen und rot-grau anliefen. Das Schielen war auch ein Schutzreflex, denn ande-re Gefangene so zu sehen war eine schmerzhafte Erfahrung. Das ununterbrochene Ausgeliefertsein gegen-über den Elementen und der Hunger verwandelten die Insassen des Lagers in eine untote Masse von wandelnden Skeletten. Die Männer waren ohnehin schon recht abgemagert, als sie auf das Feld ge-schafft worden waren, denn das gesamte Land hat-te in den letzten Kriegsmonaten nur rationiertes Essen bekommen. Nun jedoch waren ihre Augen eingesunken und das Fleisch an ihren Körpern be-deckte nur noch spärlich die Lücken zwischen ih-ren Knochen.Jeden Morgen, wenn die Dämmerung anbrach und sich die graue Masse auf dem sumpfigen Feld zu regen begann, sah man mehr und mehr lauter
– 41 –unbewegliche Klumpen im Dreck: Männer, die in der Nacht dem Elend erlegen waren. Männer und Jungen, die in einer Menschenmasse auf niedrigs-ter menschlicher Existenz dahinsiechten. Männer, die ganz allein und sehr, sehr einsam verendeten. Ihre Lippen ausgetrocknet und keuchend; viel-leicht den Namen von jemandem murmelnd, viel-leicht unzusammenhängend rufend. Manchmal mit qualvoll zuckenden Gliedern; manchmal ein-fach nur still; ein stummer Klumpen im Matsch auf der Seite zusammengerollt; etwas, das schon vor Wochen aufgehört hatte, ein Mensch zu sein. Nun war das letzte Flackern des Lebens erloschen. Die Flamme, die noch hartnäckig brannte, sich ent-schlossen an das Leben klammerte, war endgültig ausgelöscht worden; wie unter einem schweren Stiefel zerquetscht. Die meisten Männer starben ohne ihre Stiefel an den Füßen. Jemand, der nur ein wenig entschlosse-ner am Leben festhielt, zog sie den Kranken und
– 42 –Sterbenden ab, wenn sie zu schwach waren, um sich zu verteidigen.Für Kurt machte es keinen Unterschied mehr –Stiefel oder keine Stiefel. Ob seine wunden Füße bedeckt oder dem Regen und dem Dreck ausge-setzt waren, machte keinen Unterschied in seinem Elend. Er war sich nicht sicher, ob er überhaupt noch lebte. Er bewegte sich noch. Er konnte immer noch sehen und gehen – gerade noch – doch es war kein Leben. Die meiste Zeit des Tages versuchte er, einen Platz auf dem Boden in der Nähe der Gräben zu finden und seinen Kopf auf die Knie zu legen. Er versuchte, nicht zu denken, versuchte, den Schmerz nicht zu spüren, der seinen Körper durchzog, ver-suchte sogar, nicht mehr zu beten. Er kümmerte sich fast nicht mehr um das Essen. Wenn es kam, verlängerte es nur sein Elend. Helmut verbrachte seine Tage nicht anders. Sie redeten nicht mehr. Was hätte das noch für einen Sinn gehabt?
– 43 –Nach zwei Monaten gnadenloser Vernach-lässi-gung tauchten eines Morgens Lastwagen vor dem Tor auf. Doch es wurden keine toten Körper ab-transportiert, sondern Lebende verladen. Männer, die noch ein bisschen gehen oder stehen konnten, wurden aus dem eingezäunten Gatter gezogen und auf die Lastwagen verladen. Wohin wurden sie ge-bracht? War es wichtig? Konnte ein anderes Höl-lenloch noch schlimmer sein als dieses? Vielleicht würde es besser sein? Es gab Gerüchte, dass deutsche Sklavenjungen gebraucht wurden, um Minenfelder in Frankreich und Russland zu räumen. Hier oder dort; es war der sichere Tod, so oder so.Und dann nahmen sie eines Tages Helmut mit, Kurts Freund.Kurt, 16 Jahre alt, der lebhafte und empfindsa-me Junge, der immer noch rot wurde, wenn seine Freunde ihn wegen Inge aufzogen.
– 44 –Kurt, 16 Jahre alt, der noch ein Leben vor sich hatte.Kurt, 16 Jahre alt, dem jedes bisschen Leben ge-nommen wurde. Vernachlässigt, missbraucht und vergessen. Man hatte ihm das Letzte genommen, was er besaß; die letzte Verbindung zur Zivilisati-on und zu menschlichem Leben – Freundschaft.Helmut war weg und Kurt war allein. Nur 16 Jah- re alt. In Deutschland. ENDE © 2021 William und Lisa Toel
– 45 –POSTSKRIPTUMIn einer Zeit des vermeintlichen Friedens starben deutsche Jungen im Schlamm. Sie starben ohne Hoffnung und wurden einfach vergessen. Ihre Geschichte hatte nur so stattgefunden, weil sich 50 Nationen (im Vergleich zu 28 Nationen im Ers-ten Weltkrieg) den einstimmigen Bemühungen der Zerstörung Deutschlands angeschlossen hatten, nicht nur um das Nazi-Regime zu bekämpfen; sie wollten ihre Mission beenden.Diese Nationen waren sich einig: Das „Deutsch-landproblem“ sei das größte Hindernis für Welt-frieden und Wohlstand. Clemenceaus Maxime, es gebe 20 Millionen Deutsche zu viel, war weithin bekannt und wurde als Tatsache wiederholt. Dass Deutschland in jedem Marktbereich einen gewal-tigen Konkurrenten darstellte, war ebenso offen-sichtlich. Die Umsetzung dieser Maxime wurde zu
– 46 –einem konkreten Ziel, um das deutsche Problem ein für alle Mal zu lösen. 6,825 Millionen Deutsche wur- den während der Kriegsjahre getötet, der Rest der Bevölkerung der Eliminierung durch Feindselig-keiten nach dem Zweiten Weltkrieg überlassen.In den ersten drei Jahren nach der Kapitulation hätte einer am Boden liegenden Bevölkerung die helfende Hand gereicht werden müssen; sie wurde jedoch zurückgezogen. Die Kräfte eines gewaltig aufgestauten, unbegründeten Hasses – provoziert durch jahrelange Propaganda, die die Männer zum Kampf bewegen sollte – wurden in einem Chaos von wildem Opportunismus und Rachegefühlen entfesselt; vor der Öffentlichkeit verborgen, wie noch im Nebel des Krieges und gerechtfertigt mit „es geschieht ihnen Recht“ oder „sie haben damit angefangen, jetzt werden sie sehen, wie es sich an-fühlt“.
– 47 –Für die Deutschen gab es niemanden, bei dem sie hätten Zuflucht suchen können. Niemand woll-te für sie einstehen oder auf ihrer Seite stehen. Dies war ein einmaliger Freifahrtschein für die alli-ierten Mächte und so verbannten sie, in all ihrer Grausamkeit, das deutsche Volk in die Hölle. Und zwar für immer, sodass sie sich niemals mehr mit ihren eigenen schrecklichen Sünden würden be-fassen müssen. Als einziges Volk der Welt, dem nie-mals vergeben werden durfte, hatten die Deut-schen jede noch so schlimme Gräuel, verdient. Aus diesem Grund sollten sie schweigend leiden und auf ewig bezahlen; als ob der Schöpfer ihnen für immer die Rolle der „Bösewichte“ zugewiesen hätte.Dieser Glaube ist mittlerweile so tief ver- wurzelt, fast heilig geworden, dass es scheint, als könne das weltliche Gefüge, sollte man ihn auf irgendeiner Ebene in Frage stellen, in dieser Form nicht überleben. Natürlich ist seine Prämisse voll-
– 48 –ständig lächerlich. Jeder Deutsche ist nach dem Ebenbild Gottes geschaffen, wird vollkommen ge-liebt und hat ebenso Zugang zu vollständiger Ver-gebung.Aber die Deutschen wurden Jahr für Jahr ge-zwungen, tiefsten Kummer und Reue zu spüren; immer mehr Schuld und Scham zu zeigen, für die Verluste anderer, die sie nicht kannten und die ih-nen persönlich nie geschadet hatten. Und sie wur-den ebenso konditioniert, es wurde ihnen befoh-len, niemals um sich selbst oder diejenigen zu trauern, die sie kannten, auch wenn sie zu Unrecht schwer verletzt worden waren.Warum ergeben Millionen individueller Her-zenserinnerungen deutscher Familien keine über-zeugende kollektive Geschichte? Warum werden diese Erinnerungen ignoriert?Die Tatsache, dass diese Frage nicht beantwor-tet werden kann, ist ein Beweis für extrem mani-puliertes Denken. Deutsche Mütter sind sich da-
– 49 –mals wie heute einig, dass ihre Kinder jedem israelischen oder saudischen Kind gleichgestellt sind, doch das gesamte deutsche System der letz-ten 75 Jahre gründet auf der Annahme, dass dies nicht stimmt, dass das Leid und der Verlust ande-rer irgendwie einen weitaus größeren Wert hat, als der Verlust einer deutschen Mutter. Der kostbare Verlust eines deutschen Kindes soll weniger zäh-len, weniger schmerzen, auch wenn es vorsätzlich und sinnlos ermordet wird. Dieses und viele weitere Beispiele furchtbar verdrehten Denkens beruhten auf dem Bedürfnis der Alliierten, ihren Willen durchzusetzen und nicht auf der dem Deutschtum eigenen, natürli-chen Tiefe des Denkens. Im Ergebnis ist das dieser unangenehmen Diskrepanz zugrunde liegende Un-behagen einer der Gründe, warum die Deutschen nicht mögen, was sie heute ineinander sehen.Bald werden wir gemeinsam am Rhein entlang gehen, um die Opfer zu betrauern und uns unserer
– 50 –Freiheit zu erfreuen; uns an Kurt und unzählige an-dere zu erinnern und diese Erinnerung als unsere eigene anzunehmen. Wenn ein Deutscher leidet, leiden alle Deutschen. Der Diebstahl der gleich-wertigen Trauerrechte des deutschen Volkes ist die zweite der sieben großen Ungerechtigkeiten; jede vollzogen, um es ein für alle Mal zu entmächti-gen und schwach zu machen; es dahinzuführen, von Angst beherrscht zu werden und selbst ängst-lich zu sein.Der „Walk am Rhein“ ist nicht nur wichtig, um ein Unrecht rückgängig zu machen, sondern weil jede Ungerechtigkeit für sich genommen ein Hin-dernis für klares Denken ist. Den am besten den-kenden Menschen auf Erden wurde schlechtes Denken aufgezwungen: Denken, das nicht in Frage gestellt werden kann, ohne einen Gefängnisaufent-halt zu riskieren. Deshalb sitzen in deutschen Ge-fängnissen viele politische Gefangene. Das schlech-te Denken sollte die Gemüter verwirren, denn
– 51 –wenn Deutsche gut denken, schaffen sie gut – sie übertreffen sich in allem, was sie tun.Der „Walk am Rhein“ ist von großer Bedeutung, denn es ist der Tag, an dem alle Deutschen ihr eige-nes Leiden in die Hand nehmen. Es ist endlich der Tag, an dem sie ihre eigenen extremen und unge-rechten Verluste betrauern können – insbesondere die Verluste von Millionen von Deutschen, die in den Jahren nach dem offiziellen Ende des Krieges von Menschenhand oder durch Vernachlässigung ermordet wurden. Sie sind nicht vergessen. Wir werden den unzivilisierten, mittelalterlichen Gräu-eltaten, die ihnen angetan wurden, ins Gesicht schauen.Wir möchten keine Vergeltung üben, sondern im Gedenken an die Opfer, jenen Liebe und Verge-bung schenken, die sie so schrecklich misshandelt haben. Unsere Vergebung gründet in Stärke. Diese Gräueltaten können nicht ausgelöscht werden, die-se Ungerechtigkeiten kein Recht werden.
– 52 –Dennoch ziehen wir für alle Zeiten einen Schluss- strich darunter, sodass wir voranschreiten können, um ein neues Deutschland aufzubauen.William Toel
Auch von William und Lisa Toel:Es ist gut Deutscher zu sein.Bletchley Park: Die psychologische Kriegsführung gegen Deutschland.Die sieben Ungerechtigkeiten.Neue Weltordnung: Das Gesicht des wahren Feindes.Gefahr! Moralische Höhen!Erika.www.williamtoel.de/flipbooksund von Elspeth:Constanzes Kind: Ein Geheimniswww.williamtoel.de/constanzes-kind
Sie sind nicht vergessen.Wir möchtenkeine Vergeltung üben,sondernim Gedenken an die Opfer,jenen Liebeund Vergebung schenken,die sieso schrecklich misshandelt haben.Unsere Vergebung gründet in Stärke.Diese Gräueltatenkönnen nicht ausgelöscht werden,diese Ungerechtigkeitenkein Recht werden.Dennoch ziehen wirfür alle Zeiteneinen Schlussstrich darunter,sodass wir voranschreiten können,um ein neuesDeutschland aufzubauen.www.williamtoel.deBestellung: www.williamtoel.de/ipbooks