
Bakterien greifen an
Keime im Zahnfleisch können einem Dominoeffekt gleich im ganzen Körper
Erkrankungen auslösen. Ärzte warnen vor Rheuma und Frühgeburten.
CONSTANZE LÖFFLER
E
ismann Ötzi war ein Risikopati-
ent: die Cholesterinwerte zu
hoch, die Bauchschlagader ver-
kalkt. Und er litt unter einem
entzündeten Zahnbett. Zusam-
men ergibt das eine explosive Mischung.
«Patienten mit einem entzündeten Zahnbett
haben ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreis-
lauf-Erkrankungen und damit für einen
Herzinfark», erklärt Anton Sculean, Di-
rektor der Klinik für Parodontologie der
Universität Bern und Präsident der Schwei-
ze rischen Gesellschaft für Parodontologie
(SSP). Die Entzündung heizt das Immun-
system an. Keime aus der Blutbahn haften
an den Gefässwänden und fördern über Bo-
tenstoffe die Bildung von Blutgerinnseln.
«Alles zusammen begünstigt den Gefäss-
verschluss», so Sculean.
Eine Zahnbettentzündung, von den
Fachleuten als Parodontitis bezeichnet, gilt
schon länger als Infarktrisiko. Mittlerweile
deutet einiges darauf hin, dass die Keime im
Mund weitaus mehr Schaden anrichten kön-
nen. Forscher bringen Diabetes, Frühgebur-
ten und Krankheiten wie Alzheimer, Krebs
und Impotenz damit in Verbindung. «Die
Entzündung löst diese Erkrankungen nicht
direkt aus, sondern begünstigt sie als Risi-
kofaktor, ähnlich wie Rauchen oder Überge-
wicht», erklärt Sculean. Erst das Zusam-
mentreffen mehrerer Puzzlesteine summiere
sich zur Erkrankung. Eine konsequente Be-
kämpfung der Mundkeime ist daher nicht
nur wichtig, um die eigenen Zähne mög-
lichst lange zu erhalten. Sie hilft auch, den
restlichen Körper gesund zu halten.
Jedes Mal spült es Millionen
Bakterien in die Blutbahn
Das Beispiel Ötzi zeigt, dass die Parodonti-
tis keine Erscheinung der Neuzeit ist. «Die
Erkrankung begleitet uns Menschen von
jeher. Es gab sie schon bei den alten Ägyp-
tern und eben in der Jungsteinzeit», sagt
Roger Seiler vom Zentrum für Evolutionä-
re Medizin in Zürich. Der Zahnarzt wertete
vor zwei Jahren computertomografi sche
Daten von Ötzis Gebiss aus. «Besonders
im Bereich der Backenzähne war bei Ötzi
ein fortgeschrittener Verlust des Stützge-
webes nachzuweisen.»
Heute leidet mindestens jeder fünfte
Schweizer unter einer chronischen Zahn-
bettentzündung. Mit der richtigen Vorsorge
und konsequenter Behandlung könnten
auch diese Menschen von den folgen-
schweren Keimattacken verschont bleiben.
Zwar sorgt das Recall-System der Zahnarzt-
praxen hierzulande für überdurchschnit
t-
lich gesunde Zähne im Vergleich zum rest-
lichen Europa. «Doch noch immer werden
nicht alle Fälle rechtzeitig erkannt oder
nicht richtig behandelt», so Sculean.
In den USA geht man bereits einen
Schritt weiter: Krankenversicherer Ätna
beispielsweise bietet Schwangeren und Ri-
sikopatienten mit Diabetes, Schlaganfall
und Herz-Kreislauf-Erkrankungen ein Ex-
tra-Leistungspaket für die Zähne an. Denn
zahnsanierte Risikopatienten, das zeigen
die Daten, kosten die Versicherung weniger
als unbehandelte.
Zwischen Zahn und Zahnbett gibt es
eine Lücke. Darüber dringen die Erreger
auch bei Gesunden aus dem Mund ins Kör-
perinnere. Jedes Mal kauen, Zähneputzen,
das Benutzen von Zahnseide oder einem
Zahnstocher spült Millionen Bakterien in
die Blutbahn. Im Falle einer Parodontitis
bildet die entzündete Schleimhaut in den
Zahnfl eischtaschen eine offene Wunde so
gross wie ein Handteller, so dass diese
Menge tausendfach erhöht ist. «Wir fi nden
Parodontalkeime, wo sie nicht hingehören:
in Herzklappen, in der Gelenkschmiere, in
den Wänden verengter Gefässe und im
Mutterkuchen schwangerer Frauen», so
Sculean. Dort bilden sie Giftstoffe und sta-
cheln das Immunsystem auf.
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